Bad Behaviour von -Red-Karasu (but i do it in the best way) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Bad Behaviour (but i do it in the best way) Es gab wenige Dinge in seinem Leben, auf die Shinya wirklich stolz war. Ein Fakt, der nicht, wie manch einer behaupten mochte, auf einen Mangel an Selbstbewusstsein zurückzuführen war, sondern sich vielmehr darin begründete, dass er sich und die Welt an hohen Standards maß. Dass es harte Arbeit erforderte, diesen gerecht zu werden, war etwas, was er gern auf sich nahm und das ihm eine gewisse, in sich ruhende Grundzufriedenheit im Leben bescherte. Und die war, wenn man ihn fragte, wesentlich mehr wert als Stolz. Im Gegensatz zu dem, was die Welt als Großes und Ganzes anzunehmen schien, war Shinya nicht nur mit seinem Leben, sondern auch mit sich selbst mehr als zufrieden. Die Strategie dahinter war aus seiner Sicht eine simple: Wenn sein Leben so verlief, wie er es sich wünschte, tat er offensichtlich das Richtige. War dem nicht so, dann musste er notwendigerweise Kurskorrekturen vornehmen. Wie diese im Zweifelsfall auszusehen hatten, konnte er gut und gern mit sich selbst ausmachen, auch wenn dieses Vorgehen in seiner Umwelt nicht immer auf Gegenliebe stieß. Wenn man Shinya fragte, musste die Welt sich schlicht damit arrangieren. Für ihn war es vollkommen ausreichend, seine Umwelt über die Beschlüsse, die er in oft hitzigen innerlichen Debatten getroffen hatte, dann zu informieren, wenn es notwendig war. Er betrachtete es als eine produktive und vor allem zeitsparende Art, sich mit Personen und Problemen auseinanderzusetzen, die einem erfüllten Alltag seinerseits im Weg standen. Im Umkehrschluss lebte er gern damit, den Ruf eines sturen Esels zu haben oder bisweilen selbst von engen Freunden Stirnrunzeln und ungläubige Blicke zu ernten. Ein aktuelles Beispiel hierfür war sein Entschluss, einen eigenen YouTube-Kanal abseits der Band zu starten und über dieses Medium, bei dem er alles selbst in der Hand hatte, zu beginnen, auf seine eigene Weise mehr von sich mit seinen Fans zu teilen. Seien es Ausflüge, Gaming Streams oder Friseurbesuche, es machte ihm mehr Spaß, als er selbst geglaubt hätte, seine Kreativität und Launen auf diese Art und Weise ganz frei ausleben zu können. Und der Band schadete es mit Sicherheit auch nicht, schließlich hatten sie in den vergangenen Jahren nicht unbedingt mit frei zugänglichen Möglichkeiten, Nähe zu ihren Fans aufzubauen, geglänzt. Gelegentlich erlaubte ihm sein kleines Experiment sogar, Dingen, die er wollte, noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen, als es sonst vielleicht möglich gewesen wäre, was nicht nur eine weitere Möglichkeit der Zeitersparnis, sondern darüber hinaus auch noch hochgradig unterhaltsam war. Und vielleicht war er auf diese Fähigkeit zumindest ein kleines bisschen stolz, auch wenn er das ausschließlich vor sich selbst zugeben würde. Shinya sog genüsslich an dem Glas-Strohhalm, der in seinem mittlerweile nur noch lauwarmen Karamell-Latte steckte. Er ließ seine Augen noch einmal über die Details der Upload-Seite wandern, auf der er die letzten zwanzig Minuten verbracht hatte und sah einen langen Moment dem Ladebalken bei seinem Fortschritt zu. Mit seinem neuesten Video würde er im Idealfall zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Seine Fans über ein interessantes neues Produkt informieren, das ebenfalls zu einer Zeitersparnis beitragen konnte und, wenn er die Lage so gut einschätzte, wie er es eigentlich immer tat, Kaoru ein wenig die Augen öffnen. Seine Lippen verzogen sich allein beim Gedanken daran zu einem vorfreudigen Grinsen. Er konnte es kaum erwarten.   ⁕⁕⁕ Kaoru war, im Einklang mit all seinen Befürchtungen bezüglich der ihm vorgesetzten Tagesplanung, durch und durch gelangweilt. Nur mit Mühe konnte er ein Gähnen unterdrücken, das er auf ebendiese Langeweile geschoben hätte, wäre ihm nicht bewusst, dass er in den vergangenen Nächten selten mehr als vier Stunden geschlafen hatte. Aber das war eben das Los eines Künstlers, man musste tun, was die Muse verlangte oder – wenn er in der Stille seiner Gedanken ehrlich war – was nötig war, um unerwünschte Gedanken aus seinen Hirnwindungen zu vertreiben. Da konnte Schlaf schon mal zu kurz kommen, sein Körper musste sich eben damit arrangieren, auch wenn er mit zunehmendem Alter leider immer weniger bereit schien, dies auch tatsächlich zu tun. Er kratzte sich halbherzig über die Bartstoppeln an seinem Kinn und zwang sich dazu, seine Augen wieder auf die schon viel zu lang andauernde Präsentation zu richten, mit der ein überambitionierter, noch nicht ausreichend von der Industrie abgestumpfter Praktikant ihm zeigen wollte, wie ihre nächste Tour aussehen könnte. Kaoru verkniff sich ein Seufzen und das mäßige Gefühl von Neid, das in ihm aufstieg. So viel ungebändigter Enthusiasmus war ihm schon lange abhandengekommen, was vermutlich zwangsläufig der Fall war, wenn man seit fünfundzwanzig Jahren den gleichen Job machte. Auch wenn er es zugegeben nicht geglaubt hätte, hätte man ihm diese Tatsache am Anfang seiner Karriere prophezeit. Aber letztlich – kreative Branche hin oder her – steckte eben auch im Musikerleben viel Planung und ein Plattenlabel oder eine Managementfirma waren nicht mehr als Bürokratiemonster, wie so vieles andere in Japan auch. Er ließ die nächsten Bilder, die zum Thema „Futuristisches Lichtkonzept“ an die Wand geworfen wurden, schweigend an sich vorbeiziehen. Abgesehen davon, dass die ganze Sache in den kleineren Clubs, die bereits jetzt für einen Teil der Tour gebucht waren, ohnehin nicht funktionieren würde, interessierte sie ihn nur mäßig. Kaoru vermutete, dass es auch ihren Fans nicht anders ging, schließlich kamen sie für die Musik und nicht für innovative Lichtdesigns zu ihren Shows. Dennoch nickte er den Ausführungen des Praktikanten, der diese Gelegenheit vermutlich auch nur durch irgendeine Art Vitamin B seiner Eltern erhalten hatte, zu und lehnte sich weit genug in seinem Stuhl zurück, um unauffällig sein Handy aus der Hosentasche hervorholen zu können. Eigentlich hatte er nur sehen wollen, wie spät es war – zu früh, um schon gehen zu können, zu spät, als dass das hier keine Zeitverschwendung war – aber sein Blick wurde von einer aufploppenden YouTube-Benachrichtigung eingefangen. Offensichtlich hatte Shinya ein neues Video auf seinem Kanal hochgeladen. Aus reiner Neugier – und einer gewissen Routine, über die er niemals sprechen würde – tippte er auf das kleine Fenster, um das Video zu öffnen, nur um im nächsten Moment das Gefühl zu haben, nach Luft schnappen zu müssen. Warum war Shinya nackt?! Gut, bei genauerem Hinsehen war es nur sein nackter Rücken, den Kaoru erkennen konnte, aber das war mehr als ausreichend, wenn man ihn fragte. Was bitte hatte Shinya sich nun schon wieder in den Kopf gesetzt? Und warum beschlich ihn das Gefühl, dass es sich hier um eine gezielte Kampagne gegen seinen persönlichen Seelenfrieden handelte? War sein letztes Video, in dem er ausgerechnet Gackt besucht hatte, um in dessen Pool schwimmen zu können – ein Teil von Kaorus Hirn sah die Beschreibung noch immer als nichts als einen schlechten Euphemismus, über den er ganz entschieden nicht nachdenken wollte – nicht genug gewesen? War die Tatsache, dass man Shinya im Halbdunklen schwimmen gesehen hatte, nicht genug gewesen? Wollte Shinya ihn absichtlich quälen, mit all den kleinen Einblicken, die er Fremden in sein Leben gab, während sie Kaoru verwehrt blieben? Er stockte. Es war ein absurder Gedanke. Aber andererseits. Shinya war ein absurder Mensch, im Guten wie im Schlechten, und hatte selbst oft genug sichergestellt, dass niemand diese Tatsache vergaß. Allein seine anhaltende Freundschaft zu niemand Geringerem als Gackt, die ihm vermutlich auf ewig ein Rätsel bleiben würde, bewies das schließlich immer wieder. Konnte er also absurde Gedanken allein aufgrund ihrer Absurdität wirklich ausschließen, wenn es um Shinya ging? Ungewollt drängte sich Kaoru eine Erinnerung an ein Teammeeting vor etlichen Jahren auf, in dem Shinya, zwischen einer Tasse Tee und ausführlicher Klatschmagazinlektüre verkündet hatte, die Band zu verlassen, sollte man sich dazu entscheiden, ab sofort grundsätzlich auf Make-up zu verzichten. Sein Tonfall wäre vermutlich ähnlich gewesen, hätte er erzählt, dass er später noch einen Friseurtermin hatte und sie sich deswegen beeilen sollten, zum Punkt zu kommen. Es war ein schwerer Nachmittag gewesen, der Kaoru vermutlich verfrüht die ersten grauen Haare verschafft hatte. Aber am Ende hatte Shinya bekommen, was er wollte, so absurd seine Entscheidung in diesem Moment auch gewirkt hatte— Schneller, als jedwede Höflichkeit es geboten hätte, richtete Kaoru sich auf, murmelte zum Abschied eine schlechte Ausrede, dringend gehen zu müssen, und verließ das Bürogebäude der Plattenfirma schneller in Richtung Tiefgarage als jemals zuvor. Dann hielt er inne. Er saß in seinem Auto und starrte auf das Lenkrad vor ihm. Wenn er sich irrte, würde er sich für alle Zeiten lächerlich gemacht haben. Er hatte nicht gedacht, dass Shinya eine Veränderung in seinem Verhalten bemerkt haben könnte, im Gegenteil. Eigentlich war er überzeugt gewesen, sich gut unter Kontrolle zu haben. Aber Shinya hatte für die Emotionen seiner Mitmenschen schon immer eine fast schon zu feine Antenne gehabt, auch wenn er das, was er sah, nicht zwingend kommentierte. Und was hatte er schon groß zu verlieren, außer vielleicht dem letzten bisschen Respekt vor sich selbst? Aus Mangel an Alternativen griff Kaoru wieder nach dem Telefon, das er beim Einsteigen nachlässig auf den Beifahrersitz geworfen hatte, und ließ das Video nach kurzen Zögern abspielen. Zweieinhalb Minuten, in denen Shinya über ein Pflegeprodukt sprach, das Kaoru aus Prinzip nicht näher verstehen wollte. Dreißig lange Sekunden, in denen heißes Wasser über seinen makellos wirkenden Rücken floss und die Kamera beschlagen ließ. Zwei weitere Minuten Shinya, redend, in einen flauschigen weißen Bademantel gehüllt. Die konkurrenzlos längsten fünf Minuten in Kaorus Leben. Nachdem das Video geendet hatte, ließ Kaoru seinen Kopf schwer gegen die Nackenstütze seines Sitzes fallen. Er hatte Shinya einmal mehr in seinem Leben ganz offensichtlich unterschätzt. Einfach alles an diesem Video war Kalkül, darauf ausgelegt, eine Reaktion herauszufordern, wenn man Shinya kannte und zwischen seinen Zeilen lesen konnte. Es war ein Fehdehandschuh, der mit akribischer Berechnung geworfen worden war und nun auf dem unbestimmten Boden zwischen ihnen lag. Was wiederum hieß, dass es jetzt allein an Kaoru war, den nächsten Zug zu machen, wenn er auf dieses Spiel eingehen wollte. Und hier, allein in der Sicherheit seines Autos, konnte er zugeben, dass er nichts lieber wollte, als zu sehen, wohin die nächsten Spielzüge führen würden. Er wollte sehen, was sich aus dieser ganz offenen Herausforderung ergeben könnte, wenn er sich nur darauf einließ. Allein der Gedanke ließ ein Kribbeln in seinem Körper aufsteigen, auch wenn Schritte ins Ungewisse eigentlich seinen perfektionistischen Tendenzen vollkommen widersprechen sollten. Er sollte dieses Video eigentlich einfach vergessen und nach Hause fahren – oder doch zumindest zu seinem Meeting zurückkehren, um den armen Praktikanten von seinem Leid, und wichtiger seiner unnötigen Ambition, zu befreien. Er— Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Dinge fielen Kaoru ein, die er tun könnte oder sollte. Am Ende aber fiel die Entscheidung beinahe ohne sein Zutun, schlicht, weil es eigentlich nichts zu entscheiden gab. Weil keine der Alternativen auch nur annähernd so verlockend war, wie die Herausforderung, die er soeben in einem fünfminütigen Video erhalten hatte. Dass Shinya die Partie zwischen ihnen auf diese Art und Weise neu eröffnet hatte – und dass er genau das getan hatte, stand für Kaoru umso mehr außer Zweifel, je länger er darüber nachdachte – hieß, dass es nichts war, was ausschließlich aus einer Laune heraus geschah. Er kannte Shinya lang genug, um diese Art von Spiel in anderen Kontexten beobachtet zu haben, auch wenn er es nicht immer hatte nachvollziehen können. Und auch wenn Kaoru nie damit gerechnet hatte, auf so im Zentrum eines seiner Pläne zu stehen – er wäre ein Narr, wenn er die Gelegenheit verstreichen lassen würde. Wenn er nicht zumindest versuchte, zu erfahren, was hinter diesem unerwarteten Unterfangen stand. Mit diesem Gedanken atmete er noch einmal tief durch und startete dann seinen Wagen. Beim aktuellen Verkehr würde es vermutlich eine halbe Ewigkeit dauern, bis er bei Shinyas Wohnung ankam, aber in der Rushhour festzustecken war ein Opfer, das er bereit war zu bringen. Aus purer Neugier natürlich. ⁕⁕⁕ Kaoru hatte sich zugegeben während der Fahrt auf die verschiedensten Szenarien, die ihn erwarten könnten, eingestellt. Jede Rotphase hatte seinem Hirn mehr Zeit gegeben, sämtliche Eventualitäten durchzuspielen und seine nächsten Schritte zu planen. Womit er aber zugegeben nicht gerechnet hatte, war, dass Shinya ihm die Tür barfuß in einem weißen oversized T-Shirt, hellgrauen Jogginghosen und ungestyltem Haar öffnen und ihn stumm aber erwartungsvoll ansehen würde. Der Anblick brachte Kaoru für einen langen Moment aus dem Konzept, sodass er sich unweigerlich fragen musste, ob genau dies der Grund war, warum Shinya beschlossen hatte, sich auf diese Art zu präsentieren. Nichts daran sollte besonders anziehend wirken, aber er musste für einen Moment die Hände zu Fäusten ballen, um sicherzugehen, dass seine Finger sich nicht eigenmächtig in Shinyas Kleidung vergruben oder sich an seine Hüften legten, um ihn einfach an sich zu ziehen. Sie standen sich einen langen Moment schweigend im Türrahmen gegenüber, ehe Kaoru unter den wachen Augen seines Gastgebers in den Wohnungsflur trat, um seine Schuhe abzustreifen. Ohne sich einen Blick auf seine Umgebung zu verschwenden, ging er dann weiter in Richtung Wohnzimmer und ließ sich auf das helle Sofa fallen, das unbestreitbarer Mittelpunkt des Raumes war. Auf dem Couchtisch standen auf Untersetzern zwei Flaschen Bier, an denen die ersten Tropfen kondensiertes Wasser herunterliefen. Offensichtlich hatte Kaoru mit seiner Einschätzung der Sachlage also zumindest so weit richtig gelegen. Shinya hatte ihn zu sich locken wollen. Die Erkenntnis beflügelte ihn und ließ gleichzeitig ein nervöses Ziehen in seinem Bauch entstehen. Er sah Shinya dabei zu, wie er ebenfalls den Raum durchquerte und sich in dem großzügigen cremefarbenen Lesesessel niederließ, der dem Sofa gegenüberstand. Hätte nicht der Anflug eines Lächelns seine Mundwinkel umspielt, hätte man meinen können, die Situation wäre eine Überraschung für ihn. „Manchmal sind deine Mastermind-Tendenzen beunruhigend“, durchbrach Kaoru schließlich die Stille, die sich, ohne unangenehm zu sein, über den Raum gelegt hatte. „Aber sie sind so unterhaltsam, findest du nicht?“ Shinya strich sich die Haare aus dem Gesicht und warf ihm für eine Sekunde ein schalkhaftes Grinsen zu. „Manchmal muss ich eben testen, ob meine Intuition noch so gut ist, wie ich denke. Und was soll ich sagen–“ „Ich bin hier.“ „Du bist hier.“ Das Lächeln, das sich nun unbestreitbar auf Shinyas Lippen gelegt hatte, hätte unschuldig gewirkt, würde Kaoru ihn nicht so gut kennen, wie er es tat und ließ ihn unwillkürlich lachen. „Lass mich raten – du konntest mit dem Video mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen?“ Die Frage erntete ihm ein Schulterzucken, dass Kaoru dazu verleitete, an seinen Fingern die Motivationen abzuzählen, die er vermutete: „Deinen Fans etwas empfehlen … ein paar tausend Leuten den Kopf verdrehen … dir meiner Aufmerksamkeit sicher sein.“ „Fast.“ Shinya beugte sich nach vorn, um nach seiner Bierflasche zu greifen und sah ihn an seinem dunklen Pony vorbei eindringlich an. Auch Kaoru lehnte sich etwas nach vorn, spiegelte nicht ganz unabsichtlich die Körperhaltung des anderen, ohne den Blickkontakt zu brechen. „Mich dazu bringen, zu dir zu kommen“, korrigierte er seine Aussage mit der Erkenntnis von eben. „Bingo.“ Kaoru legte die Stirn in Falten. Dass Shinya all dies einfach so zugeben würde, hätte er nicht erwartet. Was vermutlich der Grund dafür war, dass die Worte nun so offen zwischen ihnen standen. Er griff nach der so offensichtlich für ihn bereitgestellten Bierflasche und nahm einen großen Schluck, ehe er sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken ließ. „Du musst dir sehr sicher gewesen sein, dass es funktionieren würde“, stellte er dann fest. „War ich.“ Als wäre ein Schalter umgelegt worden, wurde Kaoru in diesem Moment eine weitere Tatsache bewusst, mit der er bisher so nicht gerechnet hatte. „Du wolltest, dass ich herkomme.“ Obwohl die Worte seinen Mund selbstsicher verließen, konnte er selbst ein leichtes Zittern in den Silben vernehmen, das seinen Ursprung aber keinesfalls in Unsicherheit hatte. „Bravo.“ In jedem anderen Zusammenhang hätte die einsilbige Antwort herablassend gewirkt, aber im Hier und Jetzt baute sie eine Spannung auf, die Kaoru bisher so nicht wahrgenommen hatte. Sie erinnerte ihn an die letzten Sekunden, bevor er eine Bühne betrat – das Gefühl, am Rande einer Klippe zu stehen und ein Stück seiner Kontrolle aufgeben zu müssen, um sich auf das einlassen zu können, was folgen würde. Denn diesen einen Punkt – dass Shinya ihn wollen könnte – hatte er bei all seinen Gedankenexperimenten bisher bewusst ausgeklammert. Er kam nicht dazu, zu fragen, ob Shinya näher auf seine Bestätigung eingehen wollte, ehe sein Gegenüber sich in einer fließenden Bewegung aus dem Sessel erhob. Wie Kaoru Momente zuvor nahm er einen langen Zug aus seiner Bierflasche, ehe er sie akkurat wieder auf dem kleinen, weißen Untersetzer abstellte, auf dem sie bisher geruht hatte. Auch in ihm konnte Kaoru die Spannung sehen, die er selbst fühlte. Nur dass es bei Shinya wirkte, als würde er einem Raubtier dabei zusehen, wie es sich auf die Pirsch gab. Dass ihn das automatisch zur Beute machte, störte ihn weniger, als er hätte vermuten können. Ganz im Gegenteil. Er verharrte äußerlich ruhig, während er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte, als Shinyas schlanke Finger nach dem Saum seines weißen Shirts griffen und er es sich in einer fast schon achtlosen Bewegung über den Kopf zog. Kaorus Kehle hatte sich nie trockener angefühlt und dennoch schaffte er es nicht, einen weiteren Schluck aus der Bierflasche zu nehmen, die er noch immer krampfhaft festhielt. All seine Aufmerksamkeit lag auf Shinya und der makellosen Haut, die er ihm gerade präsentierte, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Shinya, den er schon mit T-Shirt und Shorts hatte duschen sehen, weil er die Blicke anderer nicht mochte. Shinya, der ihm gerade ein Lächeln zuwarf, das man nur als scheinheilig im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnen konnte, denn das, was es versprach, war vieles, aber sicher nicht unschuldig. Jede einzelne Bewegung – das alibihafte Zusammenlegen des T-Shirts, eher es auf der Lehne des Sessels zurückließ, wie er sich mit einer Hand durch das violett schimmernde Haar fuhr, eher er Kaoru vollends den Rücken zukehrte – erschien allein dafür geschaffen, in ihm Verlangen zu erzeugen. Und er konnte nicht bestreiten, dass es funktionierte. Hätte Kaoru gerade die Zeit und die mentalen Kapazitäten gehabt, darüber nachzudenken, wäre er versucht gewesen, andere Momente zu finden, in denen Shinya schon eher auf seine eigene Weise seine Aufmerksamkeit erweckt hatte. So aber konnte er ihm nur hinterhersehen, als er den Raum verließ, ehe er ganz automatisch aufstand, um ihm zu folgen. Als er nach wenigen Schritten die Schwelle des Badezimmers überquerte, schlug ihm Wärme entgegen und es dauerte tatsächlich einen Moment, bis er begriff, dass Shinya gerade vollkommen ungeniert dabei war, sich gänzlich zu entkleiden. Ein letzte, plakative Warnung vor dem, was er hier vorhatte – die letzte Möglichkeit für Kaoru, sich dazu zu entscheiden zu gehen, sollte er nicht auch das Ziel vor Augen haben, auf das Shinya so offensichtlich hinarbeitete. Er könnte einfach gehen und sie müssten nie auch nur ein Wort über das verlieren, was gerade so überdeutlich im Raum stand. Der Gedanke ließ ihm für einen Moment die Knie weich werden. Trotz aller Planung und Machtspiele, überließ Shinya ihm die finale Entscheidung darüber, was sie tun würden. Kaoru musste sich auf die Unterlippe beißen, um ein zu breites Grinsen zu unterdrücken, während ein beinahe überwältigender Adrenalinstoß durch seinen Körper jagte. Wer wäre er denn, ein solches Angebot einfach abzulehnen? Shinya, der seinen Gedankengang ganz offensichtlich an seinem Gesicht hatte ablesen können, warf ihm mit hochgezogenen Augenbrauen einen eindringlichen Blick zu, ehe er die Glastür zu seiner Dusche öffnete und das Wasser anstellte. Erst jetzt wurde Kaoru bewusst, dass er noch immer sein Bier in der Hand hielt. Hastig stellte er es auf der Ablage über dem Waschbecken ab, ehe er mit fahrigen Bewegungen begann sich erst von seinem Strick-Cardigan, gefolgt von T-Shirt und Jeans, zu befreien, ehe er endgültig alle Grenzen über Bord warf und – wenn auch weit weniger elegant als Shinya – seine Shorts und Socken auf dem Badezimmerboden zurückließ. Und auch, wenn er nie gedacht hätte, einmal in dieser Situation zu sein, überkam ihn eine ungewöhnliche Ruhe. Sicher, ein sehr großer Teil von ihm konnte immer noch nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte, aber er wusste, dass es dumm wäre, vor etwas zu fliehen, dass Shinya offensichtlich ebenso wollte, wie er selbst. Ganz egal, ob sie nur durch eher unkonventionelle Maßnahmen in diese Situation gekommen waren oder nicht. Sie waren jetzt hier und mehr war im Moment nicht wichtig. Mit sicheren Schritten durchquerte er das Badezimmer und trat zu Shinya unter die Dusche, die angenehm warmes Wasser auf sie herabregnen ließ. Er nahm sich einen Moment Zeit, den anderen in Gänze zu mustern, ehe er beide Hände ausstreckte und Shinya vorsichtig das nasse Haar aus dem Gesicht strich, ihm einige Sekunden lang nur in die Augen sah und dann auch den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückte. Die erste Berührung ihrer Lippen ließ einen Schauer durch Kaorus Körper rieseln und an dem kleinen Seufzen gemessen, dass er von Shinyas Lippen küsste, war er mit dieser Empfindung nicht allein. An diesem Moment gemessen, wäre er zufrieden gewesen, nie wieder etwas anderes zu tun, als Shinya zu küssen, seine weichen Lippen auf den eigenen zu spüren; zu fühlen, wie sein Körper sich gegen ihn drängte, wie seine Hände voller Neugier begannen, Kaorus nackte Haut zu erforschen. Er hatte nicht erwartet, mit einem solchen Hunger konfrontiert zu werden, aber er gab sich dem nur zu gern hin. Kaoru gab ein geradezu leidendes Geräusch von sich, als Shinya schließlich den Kuss löste und stattdessen damit begann, jeden Zentimeter seines Halses mit Lippen und Zähnen zu erkunden. Unwillkürlich krallten sich seine Hände für einen Moment in Shinyas Haar, was der nur mit einem amüsierten Schnauben quittierte, ohne sich auch nur ansatzweise unterbrechen zu lassen. Im Gegenteil, als hätte er auch jetzt jeden einzelnen Schritt geplant – und wenn Kaoru ehrlich war, lag das durchaus im Rahmen des Möglichen – arbeitete er sich langsam aber stetig zu Kaorus linker Schulter vor, verharrte dort einen Moment an ihn gelehnt, ehe er sich ein weiteres Mal so eng an Kaoru schmiegte, dass es unmöglich war zu ignorieren, dass ihn diese Nähe alles andere als kaltließ. Die Berührung, die Hitze von Shinyas Härte an seinem Oberschenkel, ließ Kaoru unwillkürlich schlucken. Sosehr er die Aufmerksamkeit, die Shinya ihm gerade zuteilwerden ließ, auch genoss, er war nicht der Typ dafür, nur zu nehmen. Nicht, wenn er jemanden so begehrte, wie es gerade der Fall war. Mit einem kleinen Ruck zog er Shinya an sich, um ihn erneut zu küssen, diesmal eindringlicher, und ihn gleichzeitig langsam, aber stetig in Richtung der nächstgelegenen Wand zu drängen. Der plötzliche Kontakt zwischen Shinyas Rücken und den kalten Fliesen wurde mit einem zischenden Einatmen, gefolgt von einem nur mäßig zärtlichen Biss in Kaorus Unterlippe kommentiert. Ehe er sich versah, lag eine von Shinyas Händen um seine Kehle und übte leichten Druck aus, um ihn an Ort und Stelle zu halten, und Kaoru konnte nicht anders, als mit einem genießenden Seufzen die Augen zu schließen. Auch wenn er nicht glaubte, dass Shinya davon ausging, ihn mit einer derartigen Geste bestrafen zu können, war sie deswegen nicht weniger reizvoll und das Lächeln, das unweigerlich auf seinen Lippen lag, machte daraus mit Sicherheit kein Geheimnis. Zu jedem guten Spiel gehörten immerhin mindestens zwei Seiten und er hatte mehr und mehr das Gefühl, dass er und Shinya einander auch in dieser neuen Partie gewachsen sein würden. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete Kaoru die Augen, während er gleichzeitig eine seiner Hände über Shinyas legte, ihren Druck selbst für einige Herzschläge verstärkte, bevor er den Griff um seinen Hals löste. Vielleicht war es seltsam, dass, seit sie das Bad betreten hatten, kein einziges Wort mehr zwischen ihnen gefallen war, aber nach allem, was er in Shinyas Gesicht lesen konnte, als er erst einen Kuss in dessen Handfläche drückte und sich dann, ohne ihren Blickkontakt zu lösen, auf die Knie niederließ, waren Worte zumindest im Moment überflüssig. Sie kannten einander gut genug, um ihre Intentionen an jeder noch so kleinen Regung des anderen erkennen zu können – und so ergeben, wie Shinya seinen Kopf nach hinten, gegen die nassen Fliesen fallen ließ, war er sicher, dass sein momentaner Plan auf Gegenliebe stieß. Dennoch – es ging hier um sie beide und so sehr alles in ihm danach drängte, Shinya zu kosten, ihn in seinem Mund zu spüren, ihn etwas von seiner eisernen Selbstkontrolle verlieren zu lassen, er wollte das hier so ausführlich genießen, wie er nur konnte. Für einige wenige Atemzüge konzentrierte Kaoru sich auf das Wasser, das noch immer angenehm warm auf seinen Rücken prasselte, ehe er sich nach vorn beugte. Er spürte Shinyas Bauchmuskeln unter seinen Lippen zucken, sah aus dem Augenwinkel, wie Shinyas Hände sich fest gegen die Wand in seinem Rücken pressten, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nein, hier ging es keinesfalls nur darum, Shinyas Neugier zu befriedigen. Egal, ob er es sich bereits eingestehen konnte oder nicht, Kaoru war sich sicher, dass nicht nur er längst von all den Dingen fantasiert hatte, für die sie im Laufe des Tages hoffentlich noch Zeit haben würden. Vielleicht lag es also einfach an ihm, Shinya davon zu überzeugen, dass das alles andere als eine schlechte Idee war, sondern eher etwas, das in der Zukunft Wiederholung finden sollte. Aber sie waren im Hier und Jetzt und gerade machte Shinya nicht den Eindruck, irgendetwas diskutieren zu wollen. Eine seiner Hände hatte die ihr auferlegte Zurückhaltung aufgegeben und bewegte sich erst über Shinyas nackten Oberkörper, dann an Kaorus Arm und Schulter entlang bis in dessen nasses Haar, in dem sich die grazilen Finger schließlich fest vergruben. Kaoru warf einen wortlosen Blick nach oben, ehe er noch einen flüchtigen Kuss unterhalb von Shinyas Bauchnabel setzte, der mit einem geradezu ungeduldigen Seufzen quittiert wurde. Ohne sich davon aus der Ruhe bringen zu lassen, setzte er den begonnenen Pfad mit seinen Lippen fort und legte gleichzeitig seine Hände an Shinyas Hüften, um ihn genau dort zu halten, wo er war. ⁕⁕⁕ Als der Morgen tatsächlich anbrach, hatte Shinya schon einige Zeit wachgelegen. Er hatte mit einer gewissen Ungeduld zugesehen, wie die Welt vor seinen Fenstern allmählich heller geworden war, während er die Geschehnisse des letzten Tages vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ. Er würde es nicht ohne Weiteres offen zugeben, aber Kaoru hatte ihn überrascht, aller Planung zum Trotz. Shinya war sich noch nicht sicher, wie er dieser Tatsache gegenüberstand – ein Teil von ihm wollte sich um seine Mühe betrogen fühlen, aber ein weit größerer war mehr als bereit, Kaoru zu vergeben. Die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, hatte seine Erwartungen unverhofft weit überschritten. Wer hätte gedacht, dass Kaoru über all die Jahre so viele kleine Geheimnisse für sich behalten hatte? Dass es tatsächlich Seiten an ihm gab, die Shinya nie zu Gesicht bekommen hatte? Die ein ganzes Spektrum abdeckten, das bei seinem ureigenen Perfektionismus begann und irgendwo bei einer Verspieltheit endete, die er nicht erwartet hatte? Es waren Facetten, die ihn neugierig machten, soviel war Shinya mittlerweile bewusst. Er wandte den Kopf zur Seite, wo Kaoru noch immer den Schlaf der Gerechten – und sexuell Befriedigten – schlief. Er hatte sich tief in sein Kissen vergraben und zwischen den weichen, cremefarbenen Bettbezügen schaute nur ein verworrener Schopf gebleichter Haare und eine tätowierte Schulter hervor, die fast schon danach schrie, von Shinya geküsst zu werden. Der Anblick ließ ihn wohlig erschauern. Auch wenn er vermutet hatte, dass sie sich über ihr grundsätzliches Interesse aneinander hinaus gut ergänzen würden – nun. Es war nicht wirklich sein Plan gewesen, dass Kaoru die Nacht hier verbringen würde, auch wenn er jetzt nicht bestreiten konnte, dass es sich gut angefühlt hatte, neben ihm einzuschlafen. Oder aufzuwachen. Mit einem kleinen Seufzen ließ Shinya den Blick durch den Raum schweifen, der vom zerwühlten Zustand seines Betts abgesehen, fast unberührt wirkte. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als seine Blicke an den weißen Lederfesseln hängenblieben, die noch immer am Kopfende seines Betts befestigt waren und er musste sich auf die Unterlippe beißen, damit er nicht in ein breites Grinsen ausbrach. Kaoru so zu sehen, war eine Offenbarung gewesen. Er hatte sich alle Zeit nehmen können, die er sich immer gewünscht hatte, um seinen Körper zu erkunden, seine Haut zu kosten, ihn schließlich in sich zu spüren – für einen Moment musste Shinya die Augen schließen, um seinen Puls zu beruhigen. Das alles war Teil seines Plans gewesen, simpel eigentlich. Aber offensichtlich war er selbst es gewesen, der einmal in seinem Leben nicht alle Schritte eines Unterfangens bis zum Ende gedacht hatte. Denn dass Kaoru jetzt überhaupt noch hier war, seine leise Atmung die ansonsten vollkommene Stille seines Apartments sanft unterbrach, darauf hatte Shinya es ursprünglich nicht angelegt. Er hatte lediglich seine Neugier und sein Verlangen befriedigen wollen, aber jetzt ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er sich vielleicht daran gewöhnen könnte, Kaoru auf diese Art und Weise in seinem Leben zu haben. Auch diese Erkenntnis war eine Überraschung und definitiv nicht in seine ursprüngliche Planung einbezogen gewesen. Sollte das, was hier im Begriff war, zu entstehen, mehr als ein Zeitvertreib werden, würden andere Regeln gelten, das wusste er. Und das war nur seine Sicht der Dinge – noch wusste er nicht, was Kaoru von all dem hielt. Shinya unterdrückte ein Seufzen, warf noch einen letzten Blick auf Kaoru und verließ dann so leise wie möglich erst das Bett und dann das Schlafzimmer. Nach einem kurzen Zwischenstopp im Bad, bei dem er sich aus einer Laune heraus statt seines weißen Morgenmantels kurzerhand den weichen Strick-Cardigan überzog, den Kaoru dort am Vortag hatte fallen lassen, ging er weiter in die Küche. Es brachte nichts, mit leerem Magen über die Situation nachzudenken, ganz abgesehen davon, dass er Kaoru früher oder später ohnehin würde wecken müssen. Also konnte er auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und dies mit einem gesunden Frühstück tun, statt weiter Löcher in die Luft zu starren. Es war schließlich immer besser, seine Zeit produktiv zu verbringen. Und die vertrauten Handgriffe, mit denen er zwei Tassen Kaffee vorbereitete, trugen zudem dazu bei, ihn ruhiger werden zu lassen. Er musste das alles analytisch angehen, so viel war Shinya bewusst. Vielleicht nicht in dem Sinne, dass er anfangen sollte, eine Strichliste zum Für und Wider von Kaorus Gesellschaft zu führen – so verlockend der Gedanke auch war. Das Mindeste war aber, dass er sich selbst darüber klar wurde, was er nach den Geschehnissen des letzten Tages wollte oder erwartete, bevor er Kaoru dazu befragte. Während er dem Kaffee dabei zusah, wie er langsam durch den weißen Keramikfilter in eine ebenfalls weiße Porzellantasse sickerte, stellte er fest, dass das Ganze eigentlich erschreckend einfach war. Es war schließlich nicht nur so, dass er Kaoru mochte, weil sie sich schon ewig kannten. Nein, tatsächlich gab es vermutlich keinen Menschen, dem Shinya mehr vertraute als ihm. Der Gedanke ließ sein Herz unversehens schneller schlagen. Von allen Menschen, von denen er regelmäßig umgeben war, oder die er in den vergangenen Jahren in sein Bett geholt hatte, würde ihm der Verlust von Kaoru den größten Schmerz bereiten. Und auch wenn er wusste, dass er manipulativ gehandelt hatte, um ihn hierherzulocken – er war sich durchaus sicher gewesen, dass er den anderen damit nicht verletzen würde. Es wäre … gut, mehr Zeit mit Kaoru zu verbringen. Außerhalb der Band. In einem anderen Kontext, der nur sie beide umfasste. Es könnte ihr Vertrauen ineinander stärken. Sie könnten, wie man so schön sagte, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Ein interessantes Konzept. Shinya wandte sich vom Kaffee ab, um den Reiskocher zu öffnen und zwei Portionen, die dank Timer über Nacht darin gegart waren, in Frühstücksschalen zu häufen. Während er den Reis würzte, überlegte er, was das alles heißen konnte. Abendessen zu zweit? So etwas wie Dates? Er stieß ein leises Lachen aus – nein, das wäre weder seine noch Kaorus präferierte Art, um Zeit zu verbringen. Nicht per se, weil sie nicht ausgingen, sondern weil er sicher war, dass sie andere Zeitvertreibe bevorzugen würden. Vielleicht eher Kino, wenn er Kaoru einmal von seinem Filmgeschmack überzeugt hatte. Oder kleine Bars, in denen es noch Live-Musik gab. Oder, und der Gedanke ließ Shinya lächeln, freie Tage, die sie einfach gemeinsam faul auf dem Sofa verbringen könnten. Zusammen aufwachen. Den Tag mit Sex beginnen und danach einfach liegen bleiben? Das wären schon deutlich verlockendere Szenarien, über die es sich eher nachzudenken lohnte. Aber er sollte nichts überstürzen. Er griff nach zwei rohen Eiern, um sie in einer geübten Bewegung mit je einer Hand aufzuschlagen und langsam über den warmen Reis laufen zu lassen. Er stellte zuerst die Schüsseln, dann den Kaffee auf ein kleines Tablet und dachte im letzten Moment an die kleine Zuckerdose, die meist unbeachtet auf seiner Anrichte stand. Aber er wusste, dass Kaoru insgeheim seinen Kaffee lieber gesüßt trank, und wenn er schon versuchte, ihn von sich zu überzeugen – was anscheinend war, was er hier gerade plante – sollten auch die Details stimmen. Mit einem tiefen Einatmen straffte Shinya die Schultern und machte sich mitsamt Tablett auf den Weg zurück in sein Schlafzimmer. Er hatte kaum die Tür geöffnet, als ihm auch schon ein offensichtlich noch sehr verschlafener Kaoru aus den Untiefen seiner Kissen entgegenblinzelte. Verdammt. Shinya kannte ihn schon länger als sein halbes Leben und ausgerechnet jetzt setzte dieser Mann sich in den Kopf, so unfair attraktiv zu werden. Das war definitiv nicht der Plan gewesen. Wie sollte er ihn so bitte jemals wieder gehen lassen? All diese Gedanken änderten zu Shinyas Leidwesen aber nichts daran, dass er nur stumm zusehen konnte, wie Kaoru sich in seinem Bett – in dem er einfach phänomenal aussah und daran gab es leider nichts zu rütteln – aufsetzte und sich mit einer Hand durch die verstrubbelten blonden Haare fuhr. „Kaffee?“, fragte Shinya schließlich, nachdem er sich zumindest ansatzweise von Kaorus Anblick erholt hatte. Er trat einen Schritt weiter in den Raum, erntete für seine Frage aber nur einen erstaunten Blick. „Was?“ Für einen Sekundenbruchteil verzog Kaoru das Gesicht, rieb sich dann mit der bis eben in seinem Haar vergrabenen Hand übers Gesicht. „Nichts“, nuschelte er schließlich. „Sah anders aus.“ Es war lediglich eine Feststellung, reichte aber offensichtlich aus, um Kaoru wieder aufsehen zu lassen. Er zuckte mit den Schultern. „Ist nur. Unerwartet. Ich hatte eher damit gerechnet, postwendend von dir hinauskomplimentiert zu werden.“ Um sich Zeit für eine Antwort zu verschaffen, stellte Shinya das Tablett vorsichtig auf dem Nachttisch Kaorus Seite des Betts ab, verbot sich aber gleichzeitig den Gedanken, dass diese Bezeichnung bei ihm definitiv Anklang fand. „Du kennst mich zu gut“, gab er dann unumwunden zu, was Kaoru ein müdes Lächeln entlockte. Shinya ließ sich auf der Bettkante nieder und betrachtete für einen Moment den schwarzen Kaffee, dessen Duft langsam den Raum erfüllte, ehe er das Lächeln zurückhaltend erwiderte. „Aber ich habe nachgedacht und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es … nicht schlecht finde, dich hier zu haben.“ Er konnte dabei zusehen, wie Kaorus Augenbrauen vom Moment des Begreifens an langsam auf seiner Stirn nach oben wanderten, auch wenn er nichts zu diesem Geständnis sagte. Ob aus Überforderung oder weil er selbst darüber nachdenken musste, welche Implikationen diese Aussage hatte, konnte Shinya nicht sagen. Ein weiteres Mal an diesem kurzen Morgen atmete er tief durch, setzte dann erneut zum Sprechen an: „Hast du heute schon was vor?“ „Eigentlich nicht?“ Die Verwunderung in Kaorus Stimme war auch jetzt nicht zu überhören. „Gut.“ Shinya beugte sich nach vorn und drückte einen unverblümten Kuss auf seine Lippen, ehe er sich erhob und um das Bett herum ging, um es sich wieder zwischen den hellen Laken gemütlich zu machen. Er warf Kaoru einen auffordernden Blick zu, bis dieser ihm stumm seine Kaffeetasse reichte. „Ich auch nicht.“ ⁕⁕⁕ Kaoru ließ sich auf einen der zumindest halbwegs bequemen Sessel im Backstagebereich des Astra fallen und legte schwer atmend den Kopf in den Nacken. Er konnte spüren, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief, während die Menge draußen in der Halle nach einer weiteren Zugabe rief. Er musste zugeben, dass es ihn auch nach fast zwanzig Jahren immer noch mit einem gewissen Stolz erfüllte, dass sie Konzerte in Europa ausverkaufen konnten und Fans, die quasi mit ihnen aufgewachsen waren, ihre Musik auch heute noch feierten. Offensichtlich wurde er auf seine alten Tage sentimental. Einfach widerlich. Er grinste in sich hinein, während er sich weit genug aufrichtete, um nach einer der Wasserflaschen zu greifen, die zusammen mit einer Auswahl an Snacks auf einem Tisch neben ihm standen. Für einen Moment kämpfte er mit dem Schraubverschluss, nahm dann gierig den ersten Schluck. Dass er dabei automatisch die Augen geschlossen hatte, bemerkte er erst wirklich, als er sie öffnen musste, um sich nach dem heiseren Kichern umzusehen, das vom Sofa auf der anderen Zimmerseite zu kommen schien. Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, dass es Kyo war, der da lachte und in seinem schwarzen T-Shirt und ebenso dunklen der Adidas-Hose quasi mit dem schwarzen Kunstleder des Möbelstücks, auf dem er lag, verschmolz. Ehe er darüber nachdenken konnte, ob er wissen wollte, was zur Belustigung des Sängers beigetragen hatte, hielt dieser halbwegs ziellos sein Handy in die Höhe, als wäre er sicher, dass seine Botschaft so oder so ankommen würde. „Ich glaube, dein Spielzeug braucht Aufmerksamkeit“, stellte er mit rauer Stimme in den Raum und gab Kaoru damit mehr Fragen auf, als er beantwortete. Was auf der anderen Seite nicht wirklich überraschend sein sollte, Kyo war eben Kyo, im Guten wie im Unverständlichen, und da auf Änderung zu hoffen, war vergeblich. „Was?“, war daher die einzig geistreiche Antwort, die er sich zwischen zwei weiteren Zügen aus seiner Wasserflasche abringen konnte. Wo war Die, wenn man jemanden brauchte, um die kryptischen Aussagen zu entschlüsseln, die sein Gegenüber in aller Regelmäßigkeit von sich gab? „Insta.“ Es sprach hoffentlich für das Konzert, das sie gerade gespielt hatten, dass Kaorus Hirn länger brauchte, als ihm lieb war, um diese aus nur zwei Silben bestehende Botschaft zu verstehen. Dann angelte er nach seinem Handy, das bisher vergessen auf dem gleichen Tisch wie die Snacks sein Dasein gefristet hatte. Er trank einen weiteren Schluck, bereute dies aber im nächsten Moment, als sich die App auf ein Fingertippen hin öffnete und er mit einem Bild von Shinyas bloßem Oberkörper konfrontiert wurde. Während Kaoru sich Sprudelwasser aus der Lunge hustete, drang erneut Kyos gackerndes Lachen an seine Ohren. Er freute sich ja immer, wenn er zur Belustigung anderer herhalten konnte – so hatte immerhin hatte einer von ihnen gerade eine gute Zeit. Es dauerte länger, als er sich gewünscht hätte, bis er wieder normal atmen konnte, weswegen der vernichtende Blick, den er Kyo zuwerfen wollte, auch eher mickriger Natur war, was wiederum mit einem immerhin stummen, dafür aber umso breiteren Grinsen gekontert wurde. Manchmal glaubte er, dass Kyo als seine persönliche Bestrafung auf der Welt war und fragte sich unweigerlich, was er in seinem letzten Leben verbrochen haben könnte, um ihn zu verdienen. Denn an den letzten fünfundzwanzig Jahren gemessen, tat er das ganz offensichtlich. Kaoru räusperte sich, stand schließlich mit seinem Wasser in der Hand auf, nur um sich im nächsten Moment etwas orientierungslos umzusehen. „Ich … bin mal kurz … draußen“, brachte er schließlich zusammen. Nur gut, dass Shinya nicht hier war, um dieses Elend persönlich zu sehen, auch wenn Kyo ihm bei seinem Glück vermutlich davon berichten würde, sobald er die Gelegenheit bekam. Und dass er zumindest kurz Zeit hatte, sich etwas zu sammeln, bis er Shinya tatsächlich fand. Was ihn daran erinnerte— Er blieb noch einmal im Türrahmen stehen und drehte sich mit ernster Miene zu Kyo um, der noch immer feixend auf dem Sofa lag und ihn beobachtete. Kaoru hielt den Blickkontakt einige Sekunden, in denen sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf seine Lippen schlich. „Wenn überhaupt, bin ich Shinyas Spielzeug.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)